Es waren einmal drei Brüder, die hätten unterschiedlicher nicht sein können. Obwohl sie allesamt gutaussehend waren und ihrem Volk alle Ehre machten, gab es jeden Tag Streit.
Der erste Bruder war ein Magier und der Älteste im Bunde. Er war freundlich, besonnen und immer höflich zu anderen. Der zweite Bruder war ein Dieb und ein Taugenichts, der sich am liebsten in den Schatten aufhielt und am Leid anderer ergötzte. Er trieb bösartige Späße mit seinen Brüdern und war der mittlere. Der jüngste Bruder war ein ehrlicher Mann, der stets auf der Suche nach der Wahrheit war. Er konnte weder seinem höflichen Bruder etwas abgewinnen, der stets nur auf seinen Vorteil bedacht war und auch noch zu diesem log, noch gefiel ihm, wie sein anderer Bruder sein Leben bestritt. Er wurde schließlich ein Priester. Eines Tages gab es einen großen Streit unter den Brüdern. Es ging darum, wessen Weg der bessere sei.
„Ich bin der Älteste unter uns, und darum ist mein Weg der bessere“, meinte der Magier, „denn ich kenne die Gesellschaft unseres Volkes und wähle immer die richtigen Worte!“. „Pah“, meinte der mittlere Bruder, der Dieb, „ich kenne die Gesellschaft weit besser als du! Ich wandele in den dunkelsten Schatten und kenne die wahren Wünsche unseres Volkes! Du siehst nur die Masken, die am Tag getragen werden, aber ich blicke bei Nacht hinter diese!“
Der Dieb grinste arrogant, und sein Bruder, der Magier, verzog das Gesicht bei dieser unhöflichen Geste. Der jüngste Bruder schwieg und dachte über das eben Gesagte nach. „Ich bin der Jüngste von uns, aber ich teile weder eure Höflichkeit, noch eure Schattenwege. Ich werde auf eine Reise gehen und herausfinden, was die Wahrheit ist.“
Gesagt getan. Der jüngste Bruder, der Priester, machte sich auf den Weg und verließ seine Heimat und alles, was er bis dahin gekannt hatte, und ging auf Reisen. Er sah nun die Welt, wie sie wirklich war. Er traf viele Leute, die er vorher nie getroffen hatte. Vom ärmsten Bettler bis zum reichsten König.
Er sah viel Freundlichkeit aber auch viel Missgunst, er hörte viel Höflichkeit, aber auch bösartige Worte und Lügen. Er sah Helden und er sah Feiglinge. Eines Tages kehrte er in einem Gasthof ein. Am Feuer saß ein alter Mann, der schon blind und buckelig war. Sein schlohweißes Haar hing in schütteren Strähnen auf seinen Rücken hinab und der Priester setzte sich dazu, denn es war kein anderer Platz frei.
Der Alte starrte aus milchigen Augen zu ihm herüber und zeigte mit seinen von Gicht geplagten Fingern auf einen Becher vor sich, der leer war.
„Reisender“, sprach der Alte, „tut einem alten Krieger einen Gefallen und holt ihm einen neuen Met.“ Der Priester betrachtete das faltige Gesicht des Alten, und seine gelben, abgebrochenen Zähne. Er war wirklich keine Schönheit, doch der Priester gehorchte. Der Alte seufzte zufrieden, als der Met durch seine Kehle rann. „Ihr seid ein Reisender, wie ich schon sagte“, sprach der Mann nach einer Weile. Der Priester wunderte sich, lauschte jedoch höflich.
„Ihr sucht nach der Wahrheit über euer Volk“, stellte der alte Herr fest, nachdem er den Krug fast geleert hatte. Nun wurde der Priester doch etwas unruhig. „Woher wisst ihr das?“, fragte er nervös.
Der Alte lachte und trank seinen Met aus. „Ich weiß viele Dinge. Denn ich war nicht immer alt und blind.“
Der Priester nickte nur zustimmend. Dies entsprach der Wahrheit, und genau nach dieser war er ja auf der Suche. „Und, verratet ihr mir die Wahrheit über mein Volk?“, fragte er, nachdem eine Weile nichts zu hören gewesen war, als das Knistern des Feuers. „Es kommt nicht auf euer Volk an“, sprach der alte dann langsam. Er hustete ein wenig und wischte sich Schaum von den Lippen.
Nun wurde der Priester doch ein wenig ungehalten. „Soll das bedeuten, dass mein Volk unwichtig ist?“, fragte er empört. Denn er war sehr stolz und wollte sein Volk nicht verunglimpft sehen. „Wir haben viele Große Dinge hervorgebracht, Städte errichtet, Imperien erschaffen und sind bewandert in der Magie und den Wissenschaften!“, führte er bemüht ruhig aus.“
Der alte lachte rau. „Ja, das habt ihr. Und ja, das seid ihr. Und dennoch ist all das nicht wichtig.“ Er hob eine faltige, gichtgeplagte Hand, deren Finger fast zu krumm waren, um noch einen Krug zu halten. „Halt ein, junger Heißsporn“, meinte er ruhig. „Es kommt nicht auf ein ganzes Volk an, sondern auf jeden Einzelnen.“ Er tippte sich an die schmale, abgemagerte Brust. „Das, was du im Herzen trägst, wird das sein, was andere in dir sehen werden. Die Wahrheit über dein Volk, junger Reisender, ist diese:
„Dein Volk ist stark, weil du stark bist. Es ist stolz, weil du stolz bist. Es wird weise sein, wenn du weise bist, denn du und jeder andere deines Volkes ist jeden Tag seines Lebens ein Beispiel für alle anderen. Du hast jeden Tag die Wahl, der zu sein, der du sein willst. Und so werden dich dann auch andere sehen, und jeder Einzelne wird dein Volk ausmachen. Es gibt manchmal nicht nur eine Wahrheit, sondern viele.“
Der Priester lauschte erstaunt und nickte nach einer Weile. Er holte dem alten noch einen Krug Met. „Ich danke Euch für Euren Rat“, sagte er lächelnd und er wies den Wirt an, dem Alten ein Zimmer zu geben und ein ordentliches Frühstück, denn es war schon spät. Er bezahlte mit dem Silber aus seinem Beutel und verabschiedete sich.
„Er kehrte sofort nach Hause zurück, wo er seine beiden Brüder streitend vorfand. Er trat in das Zimmer und sofort unterbrachen sie sich und musterten ihren Bruder. „Hast du nun deine Weisheit gefunden?“, fragte der Dieb hämisch. „Lass ihn reden“, meinte der Magier. Der Priester lächelte und tippte sich an die Ohren, ehe er wieder ging. Verwirrt blieben die beiden Brüder zurück. Der Priester jedoch, hatte seine Wahrheit gefunden. Manchmal muss man zuhören, anstatt zu reden, damit die Wahrheit einen Weg in das Herz finden kann.“