Im Auftrag von Baronin Margot van Houndvill.
Inhalt
Der Wald der Harmonie
Fleckchen war ein kleiner Hase im Wald der Harmonie. Fleckchen wunderte sich oft, warum der Wald diesen Namen trug: Denn der Wald war nicht immer freundlich und gut. Er selber hatte seinen Namen zurecht: Er hatte ein schneeweißes Fell mit einem einzigen, braunen Fleck auf der Stirn.
Seine Eltern erhoben sogar oft ihre schneeweißen Hasenpfötchen und erinnerten Fleckchen an die Gefahren im Wald.
Sobald er ein Rascheln im Gebüsch hörte, sollte er nach Hause laufen:
Es könnte ein gefährlicher Wolf im Busch sein.
Sobald die Vöglein aufhörten zu zwitschern, sollte er nach Hause laufen:
Es könnte ein gefährlicher Falke in der Luft sein.
Sobald es dunkel wurde, sollte er nach Hause laufen:
Es könnte etwas Gefährliches in der Dunkelheit jagen.
Manchmal wünschte sich Fleckchen, dass alle gefährlichen Tiere verschwinden würden. Als Fleckchen dies einmal zu seiner Mama sagte, erhob diese wie immer ihre Pfote und sagte: “Ach, Fleckchen. Ich kann dich verstehen – doch der Wald braucht alle Lebewesen.”
Überzeugt war Fleckchen nicht. Gelegentlich verschwand ein Hase, und Fleckchen wusste, was mit ihnen geschehen sein könnte. Und er mochte diesen Gedanken ganz und gar nicht.
Eines Abends war Fleckchen besonders lange draußen – noch mitten in der Nacht. Fleckchen mochte die Sterne, und so beschloss er dieses Mal den weisen Rat von Mama Hase zu ignorieren, und saß draußen vor dem Bau. Er sah in den Himmel – und eine Sternschnuppe.
Da rief Fleckchen aus: “Eine Sternschnuppe! Ich darf mir etwas wünschen! Ich wünsche mir, dass alle jagenden Tiere verschwinden – alle Füchse und Wölfe, alle Marder und Falken, alle Bären und Eulen!”
Als Fleckchen sich dies wünschte, wurde er müde – und er ging in den Bau, um zu schlafen. Eingekuschelt zwischen Mama Hase, die gerade Babyhäschen in sich trug, Papa Hase, und seinem Geschwisterchen Blümchen.
Als Fleckchen am nächsten Morgen aufwachte, spürte er, dass etwas draußen passiert war. Es gab ein Gezwitscher von vielen Vögeln, das Rufen der Hirsche und das Blöken von Wildschafen.
Als Fleckchen nach draußen hoppelte, hörte er bereits, was alle Tiere riefen: “Die Jäger sind weg! Die Jäger sind weg!”
Offenbar war Fleckchens Wunsch in Erfüllung gegangen – und nun konnte endlich Harmonie im Wald herrschen.
Fleckchen musste endlich nicht mehr aufpassen, er spielte den ganzen Tag und bis tief in die Nacht, und er fraß so viel Gras wie schon sein ganzes Leben nicht, und alle taten es ihm gleich.
Tausend Käfer
Am nächsten Tag fiel Fleckchen auf, dass er nicht mehr das schöne Quaken von Fröschen vernahm. Da ging er zu seiner Mama und fragte sie. Diese lächelte Fleckchen an und streichelte über sein schneeweißes Fell. “Mein Fleckchen – es sieht so aus, als wären alle Jäger verschwunden. Und Frösche sind auch Jäger – sie fressen Fliegen und Knusperkäfer.”
Da schüttelte Fleckchen lachend den Kopf. “Mama! Es sind doch nur diejenigen Tiere Jäger, die für uns gefährlich sind.” Diesmal schüttelte Mama Hase den Kopf. “Eine Fliege schert sich nicht um den Wolf – aber es muss auf die schnelle Zunge eines Frosches aufpassen!”
Mit den Wochen vermisste Fleckchen die Frösche immer mehr – es gab jetzt viel mehr Grashüpfer, Käfer und anderes Getier als früher. Der Wald der Harmonie war immer weniger zu erkennen – es verschwand immer mehr grün vom Boden, und von den Bäumen.
Da beschloss Fleckchen, dass es doch wieder Jäger geben sollte – um den Wald zu retten. Aber auch wenn er jeden Abend in den Himmel sah, er sah keine Sternschnuppe. Da beschloss Fleckchen, selbst ein Jäger zu werden.
Fleckchen hat manchmal aus Spaß einem Käfer hinterhergejagt – doch nun hatte er ein anderes Ziel. Da die Käfer nicht reden konnten, wussten sie nicht, dass alle Jäger verschwunden sind – und waren deshalb so vorsichtig wie eh und je.
Fleckchen sprang einen ganzen Tag und eine ganze Nacht den Tierchen hinterher. Erst als er ganz ruhig und geduldig wurde, fing er eine Heuschrecke. Er wollte das Tierchen jagen, aber nicht verletzen. Nun hatte er es zwischen seinen Pfötchen und wusste nicht, was er damit anstellen sollte. Da marschierte ein weiser Hirsch zu ihm, welcher Fleckchen bei seiner Jagd beobachtet hatte und sprach mit lauter Stimme: “Ich hab dich gesehen, kleiner Hase. Weißt du, was du nun zu tun hast? Es war eine lange Jagd, doch das Tier verdient eine rasche Erlösung.”
Fleckchen mochte nicht, was der Hirsch sagte, doch am Ende musste er diesem recht geben, und Fleckchen erlegte den Grashüpfer. Er hatte ein schlechtes Gewissen, und wollte zur Beruhigung ein bisschen Gras futtern, doch da sprach der Hirsch erneut: “Hase, was hast du vor? Ein Jäger erlegt nicht, und lässt seine Beute liegen. Wie es sich gebührt, musst du den Käfer nun essen. Denn kein Lebewesen verdient es, grundlos zu sterben.”
Da schüttelte Fleckchen wieder den Kopf. “Ich hatte einen Grund! Der Grashüpfer futtert mir mein Essen weg!”
Der Kopf des Hirsches senkte sich herab, und er stupste Fleckchen an. “Doch jedes Tier erfüllt seinen Zweck im Wald, im Leben und im Tod. Und ein Grashüpfer füllt den Magen von jenen, die ihn jagen. So ist es gang und gäbe, und es ist nun deine Aufgabe, diesem gerecht zu werden.”
Da musste Fleckchen nicken – die Worte des Hirsches machten Sinn. Und so schloss er die Augen, griff nach der Heuschrecke, und begann sie so schnell wie möglich aufzufressen.
Der Geschmack gefiel Fleckchen nicht, doch würde die Heuschrecke für Frösche und Vögel bestimmt lecker schmecken. So erkannte Fleckchen, dass er nicht zur Jagd taugte – und er eine andere Lösung für das Problem finden musste.
Fleckchen besucht die Stadt
Das Grün im Wald der Harmonie wurde immer weniger, und Fleckchens Familie musste immer weiter reisen, um genug Gras zu finden.
Da beschloss Fleckchen eine nahe Stadt aufzusuchen. Von dort kamen gelegentlich leckere Düfte, wie von Salat und Gemüse. Aber es war Fleckchen strikt verboten, sich der Stadt zu nähern – dort sei es gefährlich, warnten ihn Mama und Papa Hase. Und so wollte er sich des Nachts herausschleichen.
Doch am Eingang wartete bereits seine Schwester Blümchen auf ihn. “Ich weiß, was du vorhast, Brüderchen! Du willst in die Stadt, und ich komme mit! Sonst erzähle ich es Mama und Papa!”
Fleckchen wollte sich zuerst weigern, doch durfte Blümchen nichts ihren Eltern erzählen, und so gingen sie gemeinsam. Sogar in der Nacht war die Stadt laut und stinkend – die Häschen rümpften ihre Näschen.
Da begann Blümchen zu zittern, und Fleckchen sah sie besorgt an. Da sprach sie: “Die Stadt macht mir Angst, ich möchte lieber weglaufen. Ich höre das Gebell von Hunden, das Miauen von Katzen, das Geschrei der Städter. Ich kann kaum hier bleiben – aber du bist mein Bruder und ich hab dich lieb, also warte ich hier auf dich.”
Fleckchen bewunderte den Mut seiner Schwester – auch er würde am liebsten weglaufen. Doch unter all den Düften mischte sich der zarte Hauch von Gemüse – und er wollte sich und seiner Schwester etwas holen.
So nickten sie sich noch einmal zu, und Fleckchen machte sich auf den Weg in die Stadt. Es gab da drin kaum Orte, um sich zu verstecken, und es wären beinahe Städter auf ihn getreten.
Einmal warf ein Kind sogar einen Stein nach ihm, dem Fleckchen gerade so ausweichen konnte. In der Stadt war alles viel schlimmer, als er es sich vorgestellt hat – doch fand er einen Marktstand. Offenbar wurde etwas verloren, denn eine große Karotte lag noch auf dem Boden.
Fleckchen schnappte sie sich, und rannte so schnell es ihm seine kleinen Hasenbeinchen erlaubten wieder zurück zu seiner Schwester. Sie teilten sich die Karotte und waren glücklich. Doch Fleckchen musste schließlich sagen: “Blümchen, ich glaube, die Stadt ist nichts für uns Tiere. Eine Ameise würde sich in unserem Hasenbau nicht wohlfühlen, und wir fühlen uns nicht in dem Stadtbau wohl.”
Blümchen nickte, und sie machten sich auf den Heimweg. Sie kamen sicher zu Hause an, auch wenn Mama und Papa ihre Abwesenheit bemerkt hatten. Sie haben sich furchtbar gesorgt, und zuerst geschimpft, dann haben sie ihre Kinder umarmt und ins Bett geschickt.
Fleckchen brauchte einen neuen Plan, um den Wald zu retten.
Städter im Wald
Während der Wald zunehmend karger wurde, kamen die Städter in den Wald der Harmonie. Fleckchen sah sie bereits vom Weiten, wie sie durch die Äste blattloser Büsche huschten.
Er war neugierig und beschloss, sie zu beobachten.
Diese Städter übernahmen nun die Rolle der Tiere, die sich Fleckchen damals weggewünscht hat. Sie begannen die Tiere zu jagen, von welchen es zu viele gab. Zuerst war Fleckchen traurig – doch er verstand nun, dass der Wald der Harmonie dies brauchte. Diese besonderen Städter achteten darauf, nichts kaputtzumachen.
Sie nahmen alle Tiere mit, die sie erlegten. Ganz wie der weise Hirsch sagte, ließen sie kein Tier leiden, und kein Tier liegen. Wenn sie bemerkten, dass sie von einer Tierart zu viel gejagt haben, ließen sie dieses Tier in Zukunft in Ruhe.
Fleckchen bemerkte, wie sich der Wald erholte. Das Gras wuchs erneut, und zarte Blätterknospen waren an Gebüschen und Bäumen zu sehen.
Eines Abends saß Fleckchen erneut vor dem Bau, und sah in den Himmel. Er hatte in den letzten Monaten viel gelernt – dass die Welt nicht besser wurde, nur weil keine jagenden Tiere mehr da waren. Die Städter waren eine Lösung, doch Fleckchen dachte sich, dass der Wald alleine vorher auch gesund war. Da sah Fleckchen eine neue Sternschnuppe.
Da rief Fleckchen aus: “Eine Sternschnuppe! Ich darf mir etwas wünschen! Ich wünsche mir, dass alle jagenden Tiere zurückkehren – alle Füchse und Wölfe, alle Marder und Falken, alle Bären und Eulen!”
Da begann es im Gebüsch zu rascheln, und Fleckchen rannte lieber so schnell wie möglich zurück in den Bau.
Am nächsten Tag erwachte Fleckchen, und der Wald war ungewöhnlich leise. Er hatte sich an die ganzen Geräusche gewöhnt, und so schaute er nur zögerlich aus dem Bau. Dort stand ein Wildschaf, und schaute ihn an.
Und nicht nur das, das Schaf sprach sogar! “Lausch.”
Fleckchen tat wie ihm geheißen, und er hörte das Quaken von Fröschen. Da musste Fleckchen lächeln.
Es war wieder der Wald der Harmonie – Fleckchen hatte für ganz schönes Chaos gesorgt, doch mit der Rückkehr aller Tiere, und vielleicht der Hilfe der Städter, könnte der Wald auch in Zukunft so bleiben. Die Beutetiere, die Jäger und die Städterjäger waren nun Teil desselben Waldes – und alle trugen ihr Teil dazu bei, dass es ein gesunder, grüner Wald blieb.
Nachwort
Die Natur ist oft fragiler, als wir glauben. Es braucht keinen großen Einfluss, um die Balance zu stören – und oft sind wir ‘Städter’ daran beteiligt. Ähnlich den Druiden ist es die Aufgabe von Jägern jener Natur zurückzugeben, von der sie ihre Inspiration erhalten.
Auch wenn wir die Natur nicht zu sehr belasten sollten, so wäre das Wegschauen ein Fehler. Denn wir gehören noch zu jener.
Dieser Aufgabe kann mit Rücksicht, Ehre und Respekt nachgegangen werden. Die Tugenden der Jägerschaft sind vielfältig und fallen nicht so ins Auge wie jene, die aus eigennützigen Motiven handeln – doch sind die tugendhaften Jäger mittlerweile ein kaum weg zu denkender Teil der Welt.
-Geschrieben von Viviella Federschleier,
im Auftrag Margot van Houndvill