6. Geschichte
Laura und Lukas hatten es sich unter dem großen Apfelbaum in Tanissas Garten auf einer Decke gemütlich gemacht. Sie hatten mit ihr jede Menge bunter Kissen herausgeholt und die Sommersonne glitzerte durch das Blätterdach ins Magierviertel hinab. Mit Bedauern meinte Laura:
“Schade, dass der Sommer irgendwann zu Ende ist. Die schönen Blumen sind dann wie weggeblasen und im Winter ist alles so leergefegt und kahl.”
Lukas nickte: “Ich mag den Sommer auch lieber, aber ich habe neulich eine Geschichte gehört, da …”
“Oh, ich liebe Geschichten”, fiel Laura ihm ins Wort und lehnte sich zurück auf ein großes Kissen. “Erzähl!”
“… also, es war schon viele, viele Monde und Sonnenaufgänge alles grün. Es war ewiger Sommer. Die Tiere und Pflanzen konnten sich schon an keine anderen Zeiten mehr erinnern. Ab und zu regnete es und das Wasser stillte den Durst der Tiere und Pflanzen.”
Doch eines Tages begann sich alles zu verändern. Ein kleines Friedensblümchen auf einer üppigen grünen Wiese sagte zu seiner Mutter:
“Mama”, sagte es,”Ich bin so müde, ich möchte ausruhen. Immer nur wachsen und blühen ist so anstrengend.”
Mutter Friedensblümchen sah ihr Kind mit Sorge an. “Das ist unser Leben”, sagte sie. “Ja, ich weiß”, antwortete ihr Kind leise und ließ den Kopf hängen.
Vielen anderen ging es ebenso: den Eichhörnchen, den Ahornbäumen und den Sonnengräsern. Sie alle waren erschöpft.
Da nahm Mutter Friedensblümchen all ihren Mut zusammen, richtete sich auf und schickte einen Gedanken in die Wolken.
“Hört mal, Wolken, die ihr den Regen schickt, mein Friedensblümchenkind ist müde, wie viele von uns. Immer nur blühen und wachsen ist so anstrengend. Schickt uns doch etwas, damit wir ausruhen können.”
Als das nächste Licht am Himmel erschien und der folgende Tag begann, war es deutlich kühler. Erst hielten die Pflanzen und Tiere es für eine Laune des Wetters, aber dann bemerkten sie, dass die Kühle blieb und es kälter und kälter wurde.
Die meisten Pflanzen und Tiere bekamen Angst. Was sollten sie tun? Was hatte die Kühle zu bedeuten?
Die meisten von ihnen hatten nicht mehr viel Kraft. Das kleine Friedensblümchen und seine Mutter verloren bald Blütenblatt für Blütenblatt.
Eines sehr kalten Nachmittags wandte das kleine Friedensblümchen den fast kahlen Kopf seiner Mutter zu.
“Mama”, sagte es leise, denn für mehr reichte seine Kraft nicht mehr, “Mama, hörst du auch etwas?”
Seine Mutter schüttelte ohne etwas zu sagen traurig den Kopf.
“Aber ich.”, flüsterte das kleine Friedensblümchen “Ich höre ein Gewisper und Geflüster. Ganz zart. Ganz leise.”
Und es lauschte so angestrengt, dass es auch sein letztes Blütenblatt verlor. Seine Mutter sah es mit Trauer und Sorge an.
Da begann das kleine Friedensblümchen zu sprechen. Es war kraftvoller als zuvor:
“Ich weiß, was zu tun ist. Ich konnte es hören. Die Zeit auszuruhen und zu schlafen kommt näher. Die Zeit, unsere Kräfte zu bündeln und zu bewahren, um dann mit neuer Energie zu beginnen. Jeder von uns, ob Pflanze oder Tier, der müde ist, geht seinen eigenen Weg um zu ruhen und wenn die Sonne am Himmel wieder wärmer wird, erblühen wir mit neuer Kraft.”
Diese Kunde, die das kleine Friedensblümchen erlauscht hatte, wurde schnell von allen Pflanzen und Tieren in die Welt getragen.
Jeder begann sich auf seine Art und Weise vorzubereiten.
Die Eichhörnchen bekamen von den Nussbäumen Nüsse zum Verstecken und kuschelten sich in ihre Nester.
Das Sonnengras sammelte seine Kraft in der Wurzel und die Ahornbäume gaben ihren Blättern bunte Farbe, so sehr freuten sie sich auf die Ruhezeit. Andere sammelten ihre Kraft in ihren Samen, um nächstes Jahr neu zu wachsen.
Die Blaumeise aber war nicht müde und versprach, auf alles zu achten und im nächsten Jahr, wenn sie sich wiedersahen, zu berichten.
Auch das Friedensblümchenkind sammelte seine Kraft, genau wie seine Mutter.
Vor dem Schlafen flüsterte es: “Wenn die Sonne auf mich scheint, werde ich wieder wach und schaue, auch wenn es noch kalt ist. Ich möchte wissen, wie die Welt aussieht, wenn sie schläft”.
“Tu das, mein Kind”, antwortete Mutter Friedensblümchen und legte eins ihrer Blätter behutsam über ihr Kind.
Sie schliefen ein.
Tief und fest ruhten sie den Winter über, wie viele Pflanzen und Tiere. Der Winter ließ zarte Schneekristalle in der Luft tanzen und deckte sie behutsam zu.
Im nächsten Frühling, als die Sonne wieder begann, kräftig zu scheinen, kamen die Pflanzen und Tiere mit neuer Kraft zurück.
Lukas schwieg einen Augenblick.
“Hier endet das Märchen”, sagte Lukas.
Laura reckte sich. “Eine schöne Geschichte. Jetzt weiß ich auch, warum ich schon mal ein Friedensblümchen im Winter gesehen habe, als die Schneedecke ganz dünn war und die Sonne schien. Es wollte sehen, wie die Welt im Winter aussieht.”
“Ja, da hast du wahrscheinlich ein neugieriges kleines Friedensblümchenkind gesehen.”
Buchinformationen & Anhänge
OOC Nachwort:
Vielen lieben Dank an Simone Wustrack und Marina Rädiker für die Erlaubnis ihre Geschichten unter der Creative Commons Lizenz mit anderen zu teilen.
“Wenn Friedensblümchen schlafen”
Erschienen 2017 auf www.perlenjahr.de.
Dort auch bebildert und zum Anhören für Kinder die nicht auf Azeroth leben.